DIE MURǦIʾA EINE PARTEILOSE GRUPPIERUNG AUS DER FRÜHISLAMISCHEN ZEIT Autor/in: Redaktionsteam Datum: 09.03.2019 Link: https://www.islamportal.at/themen/artikel/die-murgi%ea%bea-eine-parteilose- gruppierung-aus-der-fruehislamischen-zeit Rechtlicher Hinweis für die Wiederverwendung dieses Dokuments: Texte, Bilder, Grafiken und Tabellen in diesem Dokument unterliegen dem Urheberrecht, insbesondere den Nutzungs- und Verwertungsrechten sowie Gesetzen zum Schutz geistigen Eigentums. Die nicht kommerzielle Nutzung und nicht kommerzielle Weitergabe in elektronischer oder ausgedruckter Form sind erlaubt, wenn der Inhalt unter Quellen- und Autorenangabe unverändert bleibt. Eine Veränderung des Inhaltes sowie die kommerzielle Nutzung bedarf ausschließlich der schriftlichen Genehmigung von Univ.-Prof. Mag. Dr. Zekirija Sejdini.
Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Murǧiʾa, einer frühislamischen Bewegung, die sich wahrscheinlich im Laufe des ersten Schismas bildete, bei der es um die Frage ging, wer der rechtmäßige Nachfolger des Propheten Muhammad sein sollte. Diese Bewegung zeichnete sich dadurch aus, dass sie sich eines Urteils bezüglich der Frage des rechtmäßigen Herrschers enthielt und jeden, der das Glaubensbekenntnis vollzog (unabhängig von seinen jeweiligen Taten) auch als gläubige/n MuslimIn ansah, was wiederum sowohl auf politischer als auch auf theologischer Ebene neue Perspektiven öffnete. Kurz nach dem Ableben des Propheten Muhammad (gest. 632 n. Chr.) kam es in der frühen muslimischen Gemeinde zu einer großen Spaltung, die auf die Frage beruhte, wer der rechtmäßige Nachfolger des Propheten sein sollte. Daraus resultierten wiederum zwei große Schlachten, die sogenannte Kamelschlacht (656 n. Chr.) und die Schlacht von?iff?n (657 n. Chr.). Als Folge dieser beiden Bürgerkriege entstanden unterschiedliche politische sowie theologische Gruppierungen, nicht zuletzt eben auch jene Bewegung, die bis heute als Mur?i?a bekannt ist. Diese Gruppe zeichnete sich dadurch aus, dass sie sich zwischen zwei extremen Positionen befand: nämlich der Position der Schiiten sowie der??ri?iten. Die Mur?i?a nahm eine neutrale Stellung bei dem Konflikt ein, weshalb sie sich auch eines Urteils enthielt. Auch?Abdall?h ibn?umar (gest. 693 n. Chr.), ältester Sohn des zweiten Kalifen?Umar ibn al-chatt?b (gest. 644 n. Chr.), soll ein Teil dieser Gruppe gewesen sein. 1 Seine Worte fassen die Haltung der Mur?i?a gut zusammen:?für uns sind sie alle Gläubige. Wir ziehen uns weder von ihnen zurück noch verfluchen wir sie, noch legen wir Zeugnis für sie ab. Wir überlassen ihre Angelegenheiten Gott: Er 2 wird über sie richten.? Ibn?Umar taucht bei vielen Werken auf, die als früh-mur?i?itisch eingestuft werden. Er vertrat die Meinung, dass der jeweilig Herrschende akzeptiert werden müsse. Er war überzeugt davon, dass diese Akzeptanz gegenüber dem Herrscher eine Spaltung innerhalb der muslimischen Gemeinschaft (und folglich grausames Blutvergießen) 3 vermeiden würde. In diesem Zusammenhang ist es allerdings wichtig zu erwähnen, dass nicht immer von derselben Gruppe die Rede ist, wenn in den frühislamischen Werken von Mur?i?a gesprochen wird. Je nach Zeit und Ort bezeichnete man mit dem Begriff unterschiedliche Bewegungen. Im Fall von?abdall?h ibn?umar meinte man, wenn man ihn als Mur?i?it bezeichnete, wahrscheinlich, dass es sich bei ihm schlicht um eine neutrale Person handelte. Die Zuschreibung einer bestimmten Gruppe mit einheitlicher 4 Lehrmeinung war somit in diesem Fall weniger gemeint. Ein Kennzeichen war allerdings stets die immer wieder betonte Zurückhaltung. Auch im Kit?b al-ir??? des?asan b. Mu?ammad b. al-?anaf?ya (gest. 718), das das früheste bekannte Werk über die Mur?i?a 5 darstellt, wird dies (sowie weitere Thesen) behandelt. Allerdings ist die Schrift kein Buch, sondern es handelt sich hierbei um einen Brief, der wahrscheinlich gegen Ende des 7. 6 Jahrhunderts n. Chr. entstand. Der Begriff Mur?i?a selbst leitet sich aus dem Verb ra?a?a ab und bedeutet aufschieben, verschieben, vertagen oder auf später verlegen. Im Gegensatz zu den??ri?iten, die die beiden Kalifen?Uthm?n und?al? verurteilten, enthielten sich die Mur?i?iten ein Urteil abzulegen und überließen diese Angelegenheit
7 Gott allein. Das Substantiv ir??? wiederum wird von Josef van Ess als?zurückstellung des Urteils in Dingen, die den Menschen verborgen und bei denen sie nicht dabei 8 gewesen sind?, definiert. Folglich trennte man zwischen den Taten (?amal) eines Muslims und seinem Glauben (?m?n). Jeder der sich zum Islam bekannte, so die Doktrin, musste unabhängig von seinen Taten als Muslim angesehen werden. Deshalb maß man sich auch nicht an?uthm?n und?al? zu verurteilen. Ein Muslim bleibt dieser Ansicht nach, auch wenn er eine Sünde begangen haben sollte, immer noch ein Gläubiger. Bei einem 9 Herrscher gilt dies genauso, wie bei jedem anderen. In der Praxis hatte dies auch während der Regierungszeit der Umayyaden Auswirkungen. Die Mur?i?iten leugneten zwar nicht, dass diese sündhafte Handlungen begingen, dennoch akzeptierten sie ihre Regierung und unterstützten sie, da sie die Umayyaden trotz ihrer sündhaften Taten als Gläubige betrachteten. Die meisten Autoren stufen die Mur?i?a deshalb als?königstreu? 10 ein. Die Mur?i?a in Kufa: Der Briefwechsel Ab? Han?fas mit?u?m?n al-batt? Als bedeutende und einflussreiche Bewegung wird die Mur?i?a erst gegen 700 n. Chr. in Kufa greifbar, wobei es auch hier politische Auseinandersetzungen mit Schiiten und??ri?iten gab. In Kufa befand sich auch der berühmte Theologe und Rechtsgelehrte Ab? Han?fa (gest. 767), nach dem die hanafitische Rechtsschule benannt wurde. Weil er mit vielen mur?i?itischen Ansichten sympathisierte, wird ihm nachgesagt, ebenfalls ein 11 Anhänger dieser Gruppe gewesen zu sein. Er selbst hingegen lehnte die Bezeichnung strikt ab. Dies geht aus einem Briefwechsel hervor, den er mit?u?m?n al-batt? (gest. 760 n. Chr.) pflegte, der sich in Basra befand. Ab? Han?fa selbst bevorzugte die Bezeichnung ahl as-sunna (Anhänger der Sunna) oder ahl al-?adl (Anhänger der Gerechtigkeit Gottes). 12 Laut van Ess spielte?das mur?i?itische Credo? für die in Kufa lebenden Leute aus politischer Sicht tatsächlich keine sonderlich große Rolle, da das?zurückstellen? des Urteils auf bestimmte (herrschende) Persönlichkeiten in diesem Kontext nicht relevant war. Das spezifisch mur?i?itische sei vielmehr eine?theologische Grundsatzhaltung? 13 gewesen. In weiterer Folge begründet Ab? Han?fa seine These der Trennung zwischen Glauben und Taten. Der Prophet Muhammad habe nämlich zuerst lediglich den Glauben gefordert. Bestimmte Gebote, die nun gültig sind, kamen erst später dazu. Der Glaube sei demzufolge von dem Glaubensbekenntnis abhängig. Jede/r, der/die verkündet den Islam als Religion angenommen zu haben, gelte somit als MuslimIn. Der Glaube und die Glaubensakte seien somit getrennt voneinander zu betrachten. Wenn dies nicht geschehe, müsse man jede/n, der einen sündhaften Akt tätigt, als Ungläubige/n betrachten. Ab? Han?fa führt aus, dass der Glaube an sich nicht zu- oder abnehmen kann, bei den Taten jedoch sei dies sehr wohl der Fall. Besonders in der aktuellen Zeit, in der unter einigen MuslimInnen die Praxis verbreitet wird, denen, die ihren Glauben anders verstehen, diesen abzusprechen, erscheint es sinnvoll sich in an diese frühislamische Tradition zu erinnern. Denn dies ist das Fundament einer pluralen Gesellschaft, die in Frieden zusammenleben will.
Endnoten 1 Ahmed Ziauddin:»A Survey of the Development of Theology in Islam«, in: Islamic Studies 11 (1972), S. 93-111, hier S. 94-95 2 Ebd., S. 95 3 Murat K. Hirsekorn:?m?n und?amal im historischen Kontext der Denkschulen. Masterarbeit, Wien 2011, S. 28-29 4 Josef van Ess: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Band 1: Josef van Ess: Theologie und Gesellschaft im 2. und 3. Jahrhundert Hidschra. Band 1, Berlin: De Gruyter 1991, S. 153 5 Ebd., S. 177 6 M. K. Hirsekorn, S. 29 7 Ebd., S. 27-28 8 J. van Ess, S. 175 9 M. K. Hirsekorn, S. 31 10 W. M. Watt:»The Political Attitudes of the Mu'tazilah«, in: The Journal of the Royal Asiatic Society of Great Britain and Ireland (1963), S. 38-57, hier S. 55 11 J. van Ess, S. 154 12 Ebd., S. 199 13 Ebd., S. 183
Weiterführende Literatur